Der Doktor erinnert an … Lassen wir das. Er hat breite Backen, die das Gesicht dehnen. Eine Visage kurz vorm Platzen. Brille. Die müssen die Doktoren tragen, selbst wenn gar kein Augenfehler vorliegt. Viele begeben sich unter das Skalpell. Lassen sich die Netzhaut ablösen. Man hat schon von Säure gehört, mit denen manchen das Augenlicht genommen wurde. Ein blinder Doktor ist der König unter ihnen. Ihr Berufsstand läuft mit Königen über.
Remus lässt ihn rein. Er bückt sich demütig. Wehe, wenn man den Doktor verärgert.
„Hier entlang“, sagt Remus.
Der Doktor bedankt sich mit einem THANKS. Remus ist nervös, weil der Doktor noch nicht einmal die Lippen benutzte. Man hat nichts gesehen und trotzdem war das Wort plötzlich da.
Remus führt ihn zu den Büchern.
„Ah!“ ruft der Doktor. „Da sind ja meine Patienten.“
Wo er denn operieren könne?, fragt der Doktor. Dort? Dort? Nein, lieber auf dem Esstisch.
„Well, well, das machen wir“, sagt er und greift nach einer Ausgabe von Blut ist ein Fluss. Kurz vor dem Buchrücken zuckt er zurück.
„No, no, no“, knurrt er.
Der Doktor greift in die Tasche seiner Kittelschürze und zieht ein Paar Gummihandschuhe hervor. Er zieht sie wie ein Band auseinander. Lässt das eine Ende los. Ein schnalzendes Geräusch ertönt, gefolgt von einem „AHHHHH“ des Doktors. Er streift sich die Handschuhe über. Langsam, als würde er eine Bombe entschärfen, zieht er das Buch aus dem Regal. Er sieht es sich an. Angewidert. Als müsse er jeden Augenblick kotzen. (Übergeben können wir hier nicht schreiben, denn dies würde der Situation nicht gerecht werden.)
„Trash“, stöhnt der Doktor und trägt das Buch zum Operationstisch. Er legt es ab, sieht sich um, hebt den Finger und verschwindet mit dem Oberkörper unter dem Tisch. Er wühlt herum, vielleicht in seiner Tasche, auch wenn Remus sich nicht erinnern kann, dass er eine mitgebracht hat.
Da ist der Doktor ja wieder. Dauergrinsend und mit einer Schere, die er SCHNIPPschnapp im Buch versenkt. Er trennt einzelne Wörter heraus.
„Krebsgeschwüre“, röchelt der Doktor und schneidet konzentriert weiter.
Wort auf Wort fällt aus dem Roman, bis kaum noch ein Wort drin ist.
„Ein paar Kommas und ein paar UND, die können bleiben. Bringen Sie den Patienten bitte auf die Intensivstation.“
Remus sieht sich verwirrt um. Der Doktor verdreht die Augen und führt ihn zum Fenster.
„Näher“, flüstert er. „Kommen Sie näher.“
Der Doktor zeigt zu den Mülltonnen hin und sagt: „Intensivstationen.“
Remus ist am Ende. Er zittert. Er will das nicht tun. Der Doktor zieht bereits den nächsten Patienten aus dem Regal. Wieder ein Krimi. Nicht von ihm. Der Doktor beißt die Zähne zusammen und sagt: „Ein Fall im Endstadium.“
Remus sieht nicht hin. Er will nicht wissen, wen der Doktor nun zu Tode operieren wird.
„Von einem Fantasiegeschwür befallen.“
Der Doktor holt mit der Schere aus und amputiert den Patienten.
„Der Wundbrand breitet sich sonst aus“, erklärt er Remus. “ Nachher wird er Phantomschmerzen haben. Wird denken, er hätte noch einen Helden und eine Geschichte. Wenn ihm klar wird, dass da nichts mehr ist, müssen Sie sich um ihn kümmern. Verbände wechseln, gute Worte, später können Sie ihn dann auf die Intensivstation bringen. – So, jetzt aber weiter im Programm.“
Der Doktor hebt den Kopf und wendet sich seinen anderen Patienten zu. Die Buchrücken starren ihn an. Sie zittern nicht. Sie wissen von ihrem Schicksal. Niemand kann dem Doktor entkommen. Niemand.
„Hier fehlt ein Buch!“, schreit der Doktor plötzlich auf.
Das kann nicht sein. Remus lässt durchzählen. Tatsächlich. Ein kleiner unscheinbarer Kurzgeschichtenband fehlt. Remus lässt sich die Freude nicht anmerken. Er hofft, der Kleine wird es schaffen.
Der Doktor spuckt aus. „Den werden wir schon noch bekommen“, knurrt er und mach sich dann wieder an seine Arbeit.